»Pandemie als Neuanfang« in iX 08/2021

Schafft die Corona-Pandemie die Voraussetzung für neue Arbeitsmodelle und Führungskulturen?

Dies ist die zentrale Frage dieses Artikels [1].

Die Corona-Pandemie hat die Arbeitsplätze grundlegend verändert. Es zeichnet sich ab, dass Teammitglieder in Zukunft sehr viel häufiger zu Hause arbeiten werden. Dennoch ließen die Erfahrungen mit dem Homeoffice auch einige Befürchtungen aufkommen – sowohl im Management wie auch in den Teams. Mehrere Studien verdeutlichen sowohl das Ausmaß der Veränderung wie auch neue Reibungsverluste in der gemeinsamen Arbeit duetlich. In einer von Microsoft in Auftrag gegebenen Studie [2] wurden im August 2020 circa 9.000 Personen aus dem Management und den Teams großer Unternehmen in 15 europäischen Ländern befragt.

  1. Vor der Pandemie hatten demnach nur 15 Prozent der befragten Unternehmen flexible Arbeitsrichtlinien.
  2. Während der Pandemie, als der Druck auf die Unternehmen groß war, die Team-Mitglieder ins Homeoffice zu schicken und den traditionellen Arbeitstag aufzugeben, stieg die Zahl auf 76 Prozent.
  3. Nach der Pandemie erwartet ein Großtiel der Befragten, nämlich 88 Prozent, dass sich eine hybride Form der Fernarbeit fortsetzt. Ein ähnliches Umdenken hatte bereits im August das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) registriert [3].

Im Homeoffice war jedoch keineswegs alles gut. Welche Herausforderungen müssen die Unternehmen bewältigen, damit die Arbeit im Homeoffice umfassend gelingen kann?

  • 39 Prozent befürchten, dass der Teamgeist verloren gehen könnte.
  • 51 Prozent der Team-Mitglieder sehen Schwierigkeiten beim Onboarding neuer Team-Mitglieder.

Ist Remote Work ein Produktivitäts- und Innovationskiller?

  • 24 Prozent des Managements sehen die Produktivität gefährdet.
  • Nur noch 30 Prozent des Managements glauben, dass sie innovativ sind; im Jahr zuvor waren es noch 40 Prozent.

Bezüglich der Produktivität im Home-Office sind die Ergebnisse der Studien widersprüchlich. Laut der Microsoft-Studie scheint die Befürchtung unbegründet, dass die Produktivität sinken könne. Die meisten Team-Mitglieder konnten sich im Home-Office trotz der häuslichen Ablenkung besser konzentrieren. Für fast ein Viertel des Managements war es jedoch schwierig, die Produktivität zu kontrollieren und zu steuern. Diese Widersprüche lassen sich eventuell mit einem traditionellen Führungsmodell erklären, das die Anwesenheit am Arbeitsplatz mit Produktivität gleichsetzt. Wenn ihr Team in der Ferne arbeitet, mit E-Mail und Chat kommuniziert, ist die Arbeitszeit weniger gut zu kontrollieren. Übertriebenes Mikromanagement ist jedoch auch keine Lösung. Mehr als 60 Prozent des Managements geben an, dass sie Delegation und Förderung der Eigenverantwortung in Remote-Teams nicht beherrschen. Jedoch ist nicht nur für das Management das Messen und Fördern der Zusammenarbeit schwierig; auch die Team-Mitglieder sehen hier Probleme:

  • fast ein Drittel fühlt sich weniger produktiv, wenn sie in großen Gruppen arbeiten
  • fast ein Viertel hat Schwierigkeiten, rechtzeitig Informationen von Kollegen zu erhalten
  • fehlende Schulungen verschärfen die Probleme noch weiter

Sowohl Team-Mitglieder als auch das Management äußern, nicht auf die Arbeit aus der Ferne vorbereitet zu sein, sowohl in Bezug auf geeignete Werkzeuge als auch auf Soft-Skills, wie Einfühlungsvermögen und Delegation von Verantwortung. Nur 41 Prozent der Team-Mitglieder seien nach Angaben des Managements für Telearbeit geschult.

Die Umfrageergebnisse legen nahe, dass Team-Mitglieder sich subjektiv als zu wenig produktiv empfinden und dies durch längere Arbeitszeiten zu kompensieren versuchen. Dies kann zu Burnout führen, zumal das Management den psychischen Zustand einzelner Team-Mitglieder aus der Ferne schlechter beurteilen kann. Für fast 30 Prozent der befragten Team-Mitglieder ist es bei Remote-Work schwieriger geworden, eine nachhaltige Work-Life-Balance aufrechtzuerhalten, und über die Hälfte fühlt sich erschöpft und nicht in der Lage, ihre Work-Life-Balance richtig zu managen.

Geht im Home-Office der Teamgeist verloren?

Wenn das Team nicht mehr im Büro zusammenkommt, kann der Teamgeist schnell verloren gehen, die Beziehungen schwächer werden und das gegenseitige Vertrauen sinken. Für fast 40 Prozent des Managements und fast 50 Prozent der Team-Mitglieder ist es eine Herausforderung, aus der Ferne zu arbeiten und den Zusammenhalt im Team und das Zugehörigkeitsgefühl aufrechtzuerhalten. Mehr als einem Drittel des Managements fällt es schwer, durch die physische Trennung den persönlichen Kontakt zu Team-Mitgliedern aufrechtzuerhalten.

Das Onboarding neuer Team-Mitglieder ist unter Home-Office-Bedingungen besonders schwierig. Obwohl viele Unternehmen gut dokumentierte Onboarding-Routinen haben, ist der informelle persönliche Kontakt nicht zu unterschätzen. Remote wird das Onboarding und Coaching neuer Team-Mitglieder daher zu einer besonderen Herausforderung. Darunter kann auf Dauer die Unternehmenskultur leiden, da neue Team-Mitglieder dann andere Werte und Arbeitsweisen entwickeln.

Wie kann die Zusammenarbeit aus der Ferne aussehen?

Zunächst erfordert das Arbeiten im Home-Office ein Umdenken beim Management. Den Team-Mitgliedern muss sehr viel mehr Raum für Eigenverantwortung und Selbstorganisation gelassen werden. Agile Arbeitsmethoden, wie sie in der Softwareentwicklung schon seit Jahren praktiziert werden, und Lean Management könnten als Blaupause für eine neue Arbeitsorganisation dienen. Elemente agiler Praktiken sind tägliche Stand-up-Meetings – wobei das Stehen soll die Sitzungen kurz und prägnangt halten soll. Die täglichen Selbstverpflichtungen ermöglichen den Team-Mitgliedern eine bessere Einschätzung der potenziellen Herausforderungen und der Koordination zeitaufwändiger Probleme. Bei der Sprint-Planung werden die Ziele für die nächsten Wochen gemeinsam festgelegt. Dabei ist das Kanban-Boards ein wertvolle Werkzeuge nicht nur für die Planung sondern auch den Sprint-Fortschritt sichtbar zu machen.

Kanban-Board

Kanban-Board

Diese Methoden und Werkzeuge lassen sich problemlos in die digitale Arbeitswelt des Home-Offices übertragen.

Wie lassen sich Remote Teams führen?

Die Boston Consulting Group (BCG) bezeichnet in ihrer Studie [4] die Remote-Führungskraft der Zukunft als inspirierend, fürsorglich und einfühlsam. Sie stellt die Eigenverantwortung der Team-Mitglieder in den Mittelpunkt und fördert Empowerment und Teamarbeit. In ihrer Studie stellt BCG jedoch fest, dass die Entwicklung einer fürsorglichen Führung noch nicht überall Wirklichkeit geworden ist. 69 Prozent der befragten Führungskräfte gaben an, dass es zu ihren Aufgaben gehört, Teams zu befähigen und Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ein Drittel glaubt jedoch, dass sie ihren Teams Ziele nicht klar kommunizieren. Und ein Viertel gibt zu, dass sie ihre Teams nicht ermutigen, selbst neue Perspektiven zu entwickeln. Dem Management ist durchaus bewusst, dass Telearbeit besondere Anforderungen stellt. Auf die Frage, welche Fähigkeiten sie noch nicht beherrschen, hoben mehr als 60 Prozent die Schaffung einer starken Teamkultur hervor. 57 Prozent gaben an, dass sie Verantwortung nur schlecht delegieren können und Schwierigkeiten haben, ihre Team-Mitglieder in die Lage zu versetzen, die zugeteilten Aufgaben zu erledigen. Diese Kompetenzlücke ist möglicherweise noch größer, als es dem Management bewusst ist. Die befragten Team-Mitglieder betrachten den Führungsstil ihres Managements nämlich noch kritischer:

  • Nur ein Drittel der Team-Mitglieder ist der Meinung, dass ihr Management Misserfolge toleriert.
  • Nur die Hälfte hat das Gefühl, dass ihr Management ihnen die nötigen Informationen und Kompetenzen gibt, damit sie ihre Arbeit machen können.
  • Ebenfalls die Hälfte der Team-Mirglieder gibt an, dass das Management sie bei wichtigen Entscheidungen nicht um ihre Meinung bittet.
  • Und eine Mehrheit sagt, dass ihr Management keine sichere Umgebung schafft, in der sie ihre Meinung äußern können.

Es ist also noch einiges zu tun, um offene Informations- und Feedback-Prozesse in den Unternehmen zu etablieren. Die Unternehmen werden in ihre Führungskräfte investieren müssen, damit diese in der Lage sind, die neuen Remote-Werte wie Eigenverantwortung, Verantwortlichkeit, Vertrauen und Empathie zu vermitteln und zu stärken.

Die blinden Flecken der Studie

Die Studien von Microsoft und dem Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zeichnen ein differenziertes Bild der Erfahrungen, die Menschen im Home-Office gemacht haben. Die Boston Consulting Group (BCG) ergänzt dieses Bild um detaillierte Vorschläge für eine Strukturierung neuer Arbeitsmodelle und einer neuen Führungskultur im digitalen Zeitalter. Es gibt aber auch blinde Flecken. Fragen, die die unternehmenseigene IT-Abteilung, die Aufgaben der eigenen IT-Mitarbeiter und damit die digitale Souveränität des Unternehmens betreffen, werden ebenso ausgeklammert wie Fragen einer nachhaltigen Entwicklung der eigenen IT-Infrastruktur. Da zu Beginn der Pandemie ganz schnell Entscheidungen getroffen werden mussten, haben viele Unternehmen vermutlich zur nächstbesten Cloud-Lösung gegriffen, ohne zu bedenken, ob dies langfristig zu verantworten ist. Durch die Nutzung von Cloud-Lösungen entstehen neue Abhängigkeiten, die die digitale Souveränität eines Unternehmens schmälern können. Die Führungskräfte in den IT-Abteilungen der Unternehmen stehen momentan vor einer besonders großen Herausforderung. Wenn sie auf die von großen Konzernen angebotenen Cloud-Lösungen setzen, arbeiten sie im Grunde daran, ihre eigene Abteilung im Großen und Ganzen überflüssig zu machen. Setzen Sie stattdessen auf On-premise-Lösungen müssen sie gegenüber der Geschäftsführung den erhöhten Personalbedarf und unter Umständen Verzögerungen durch eigene Anpassungsleistungen rechtfertigen. Die Souveränität über die eigenen Daten und die Nachhaltigkeit der eigenen IT sind fürs Management oft eine abstrakte Größe, die sich erst dann mit Leistungskennzahlen messen lässt, wenn die Abhängigkeit des Unternehmens von einem einzigen Cloudanbieter so groß geworden ist, dass die Risiken, die sich daraus für das Unternehmen ergeben, nicht mehr zu übersehen sind. In der Regel ist es dann aber zu spät, um ohne erneute Investitionen umzuschwenken. Immer mehr Unternehmen werden sich dieser Gefahr aber bewusst. Sobald die Pandemie im Sommer letzten Jahres etwas abklang, haben die Unternehmen von ihren Beschöftigten wieder mehr Präsenz im Büro eingefordert. Der Grund für diesen schnellen Ausstieg aus dem Home-Office war sicher nicht nur die Furcht vor dem Verlust von Produktivität, Innovation und Teamgeist. Viele Unternehmen werden es bereut haben, beim überstürzten Wechsel ins Home-Office zur erstbesten Cloud-Lösung gegriffen zu haben. Was sollen die IT-Verantwortlichen in den Unternehmen jetzt tun? Wie kann Remote-Work auch auf Dauer gelingen, ohne dass die Kontrolle über die eigenen Daten verloren geht?

Auf dem Weg zu einer nachaltigen IT

Das neue Management-Paradigma muss natürlich durch eine entsprechende technische Infrastruktur unterstützt werden. Dazu gehören einerseits technische Werkzeuge wie eine sinnvolle Ausstattung mit mobilen und stationären Geräten, Kollaborationssoftware wie Videokonferenzen und andere Kommunikations-Tools, Software für Projekt- und Workflow-Management sowie Lernlösungen und soziale Netzwerke für den informellen Austausch. Andererseits benötigen Remote-Worker eine leistungsfähige, technologische Infrastruktur für Berechnungen und Speicherung.

In dieser Hinsicht wirkte Corona wie ein Katalysator und beschleunigte die Entwicklung. Die Zahl der täglich Aktiven auf Kollaborationsplattformen hat sich mehr als verdreifacht. Dreißig mal so viele Personen nahmen täglich an Videokonferenzen teil. Der Absatz von Notebooks für Unternehmen stieg im zweiten Quartal 2020 um mehr als 70 Prozent gegenüber dem gleichen Quartal 2019 [5].

Um sicherzustellen, dass die Vorteile der hybriden Arbeit ihre potenziellen Nachteile überwiegen, sollten Unternehmen einen kohärenten und gut organisierten Weg in die Zukunft der Arbeit einschlagen. Dazu ist eine übergreifende Strategie erforderlich, die die IT-Verantwortlichen in den Unternehmen von ihrer Geschäftsführung einfordern sollten.

Vendor Lock-in und Unterfinanzierung vermeiden

Bei der Umsetzung einer Remote-Work-Strategie sollten die IT-Verantwortlichen immer wieder an ihre Führungskräfte appellieren, nicht in die Falle der Unterinvestition zu tappen. Die BCG-Umfrage zeigt, dass Unternehmen sehr unterschiedliche Beträge für Remote-Working-Technologie ausgeben. Der Durchschnitt liegt zwar bei 533 € pro Mitarbeiter, aber mehr als ein Viertel gibt weniger als 100 € pro Mitarbeiter aus und nur 20 Prozent mehr als 750 €. Unternehmen, die sich von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie erholen müssen, könnten versucht sein, als erstes die Kosten zu senken. Dabei sind Management und Angestellte gleichermaßen besorgt über zu geringe Investitionen – nur 43 Prozent der Angestellten, die Remote arbeiten, haben das Gefühl, dass ihr Unternehmen ihnen alle für die Arbeit erforderlichen Tools zur Verfügung stellen, und nur 27 Prozent des Managements sind der Meinung, dass sie über alle Technologien verfügen, um ihre Teams zu managen. In jedem Fall sollten Unternehmen daran interessiert sein, Vendor Lock-ins beim Aufbau ihrer Remote-Work-Infrastruktur weitestgehend zu vermeiden. Sie sollten darauf achten, dass die eingesetzten Lösungen ihren individuellen Anforderungen entsprechend angepasst werden können. Sie müssen also erweiterbar sein. Erweiterbarkeit kann am einfachsten durch die Verwendung offener Datenformate und offener Schnittstellen erreicht werden. Nur offene, anpassbare und erweiterbare Lösungen gewährleisten das notwendige Maß an Nachhaltigkeit, das Unternehmen von einer größeren Investition erwarten. Unternehmen, die ihren Angestellten Home-Office-Arbeitsplätze anbieten, sollten ferner sicherstellen, dass sie in jedem Fall die Souveränität über ihre Daten behalten. Unter diesem Gesichtspunkt verbietet sich im Grunde die Nutzung von Cloudlösungen großer US-Konzerne wie Amazon, Microsoft oder Google, selbst dann, wenn diese auf dem Papier die Einhaltung der europäischen Datenschutz-Grundverordung (EU-DSGVO) versprechen. Open-Source-Software, offene Schnittstellen und Datenformate gewährleisten nicht nur mehr Datensouveränität und Nachhaltigkeit, mit ihnen können auch Geschäftsprozesse realisiert werden, die wirklich zum Unternehmen passen. Für die vielfältigen vernetzten Services sollten IT-Dienstleister ausgesucht werden, mit denen eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe möglich ist, anstatt unternehmenskritische Dienste an global agierende Konzerne auszulagern.


[1]iX 08/2021: Pandemie als Neuanfang – Neue Arbeitsmodelle und Führungskultur
[2]Microsoft: Building resilience & maintaining innovation in a hybrid world (PDF, 3,5 MB)
[3]ZEW: Unternehmen wollen auch nach der Krise an Homeoffice festhalten
[4]Boston Consulting Group: Remote Working and the Platform of the Future
[5]COVID-19-driven notebook momentum continues in Q2 2020